Apothekerin und Autorin

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Tabletten mit Tücken

Tabletten mit Tücken

Eine Messerspitze Bisoprolol für Frau Meier, ein Teelöffelchen Ibuprofen für Herrn Schmid – könntest du dir so die morgendliche Medikamentenvergabe vorstellen?


Ich auch nicht.

 

Ein Wirkstoff allein ist noch kein einnahmefähiges Medikament. In früheren Zeiten war es zwar üblich, Arzneistoffe löffelweise in Form eines Pulvers einzunehmen.

Allerdings kam es häufig zu Unter- bzw. Überdosierungen. Ein Löffel voll ist nicht gleich ein Löffel voll, und ein paar Bröselchen zu viel können schwere Nebenwirkungen verursachen.

 

William Brockedon, ein britischer Maler und Erfinder, wollte mit der Erfindung der Tablette

Mitte des 19. Jahrhunderts die Arzneimitteleinnahme vereinfachen.

Durch seine grandiose Idee ist heute gewährleistet, dass mit jeder Einnahme immer exakt die gleiche Wirkstoffmenge verabreicht werden kann. 

 

Um solche festen peroralen Arzneiformen – so werden Tabletten und ihre Verwandten in der Fachsprache genannt - herstellen zu können, brauchen wir Hilfsstoffe.

Sie machen das Arzneimittel nicht nur besser dosierbar, sondern können den Arzneistoff in vielerlei Hinsicht unterstützen.

Sie können für eine bessere Haltbarkeit und Stabilität sorgen. Mit Hilfsstoffen kann man auch eklige Wirkstoffe verpacken, um das Schlucken erträglich zu machen. Außerdem können durch bestimmte Hilfsstoffe Arzneimittel mit veränderter Wirkstofffreisetzung hergestellt werden, die dann zum Beispiel länger wirken können. 

 

Die Arzneimitteleinnahme wird uns also durch die Erfindung von Mr. Brockedon erheblich erleichtert – unkompliziert ist sie dennoch nicht!

Das können wir schon daran sehen, wie viele unterschiedliche feste perorale Arzneiformen uns im Pflegealltag begegnen:


Tabletten

Tabletten bestehen aus dem eigentlichen Wirkstoff und meist mehreren Hilfsstoffen. Sie werden aus Pulvern gepresst.

Bekommt die Tablette nach dem Pressen einen Überzug, nennt man sie Filmtablette. Durch die glatte Schutzschicht wird etwa das Schlucken erleichtert. 

Eine Besonderheit ist der magensaftresistente Überzug. Den erkläre ich in einer der nächsten Folgen!

 

Es gibt aber noch viele weitere Tablettenformen, beispielsweise Kau-, Lutsch-, Brause- oder Sublingualtabletten:


Kautabletten werden – wie der Name sagt - zerkaut und dann erst geschluckt.

Kautabletten können meist ohne Wasser und auch bei Schluckbeschwerden eingenommen werden. 


Lutschtabletten behält man im Mund, bis sie sich vollständig aufgelöst haben - sie werden nicht geschluckt. Der Wirkstoff entfaltet seine Wirkung schon im Mund- und Rachenraum.

Das ist etwa bei Präparaten gegen Halsschmerzen sehr praktisch.


Brausetabletten lösen sich in Wasser sprudelnd auf. Auch der Wirkstoff liegt dann schon gelöst vor und muss nicht erst aufwändig vom Körper aus der Tablette freigesetzt werden.

Er gelangt schnell in den Dünndarm und kann dadurch schneller wirken. Brausetabletten können eine Alternative für Menschen sein, die Probleme mit dem Schlucken von Tabletten haben. Allerdings sind vergleichsweise wenig Wirkstoffe als Brausetabletten im Handel. Bestimmt denkst du hier sofort an ganz bestimmte Kopfschmerztabletten!


Sublingual- und Bukkaltabletten werden unter die Zunge (sublingual) oder in die Backentasche (bukkal) gelegt, damit sie unmittelbar in die kleinen Blutgefäße unter der Zunge gelangen.

Sie werden nicht geschluckt.  Der Wirkstoff wird flugs über die Mundschleimhaut resorbiert und gelangt ohne den Umweg über Darmwand und Leber direkt ins Blut. Für die meisten Arzneimittel ist dieser Weg jedoch ungeeignet, weil sie so nur unvollständig aufgenommen werden. 

Diese Tablettenform wird auch als „Schmelztablette“ bezeichnet.

 

Dragees   

Bestimmt hast du schon einmal Schokolinsen genascht!

Auch das sind Dragees: Sie besitzen eine glatte, harte Zuckerhülle und im Kern steckt der „Wirkstoff“. Tatsächlich haben wir Apotheker das von den französischen Konditoren abgeschaut.

Durch die dicke Hülle des Dragees kann man – genau wie bei den Filmtabletten – einen üblen Geschmack oder Geruch überdecken. Die Hülle kann aber auch aus einem magensaftresistenten Überzug bestehen oder die Freigabe des Wirkstoffes verzögern. Der Nachteil dieser harten Hülle: Dragees sind nicht teilbar.


Kapseln

Kapseln bestehen aus einer Hülle, in der sich der Wirkstoff befindet. Häufig ist der Wirkstoff als Pulver oder Granulat in einer Hartgelatinekapsel verarbeitet. Ist der Wirkstoff flüssig, werden Weichgelatinekapseln verwendet.

 

Einige dieser festen Arzneiformen gibt es in einer hilfreichen, aber etwas komplizierteren Form: 

Als Retard-Arzneimittel.

„Retard“ bedeutet so viel wie „verzögert“. Bestimmte Hilfsstoffe sorgen dafür, dass der Wirkstoff über einen längeren Zeitraum freigesetzt wird. Die Wirkung solcher Arzneiformen dauert länger an, und das Arzneimittel kann deswegen seltener eingenommen werden. Also zum Beispiel nur noch einmal täglich, statt dreimal. Das ist etwa bei chronischen Schmerzen sehr praktisch! 


Retard-Arzneimittel enthalten deswegen natürlich eine deutlich höhere Wirkstoffmenge als solche ohne Retard-Wirkung. Wird eine solche Tablette - zum Beispiel durch Mörsern oder unerlaubtes Teilen - zerstört, wird der gesamte enthaltene Wirkstoff auf einmal freigegeben.

Das kann eindrucksvolle Nebenwirkungen infolge einer ungeplant hohen Dosierung nach sich ziehen. Das Zerkleinern von Retard-Arzneiformen ist daher grundsätzlich höchst problematisch und nur bei einigen wenigen Medikamenten ohne schlimme Folgen möglich. Dazu erklären ich dir aber in einem der folgenden Posts noch mehr!

 

So viele verschiedene Arten von Tabletten und so viele mögliche Fehlerquellen bei der Anwendung! 

 

Welche Punkte gibt es bei der Applikation von festen peroralen Arzneiformen zu beachten?

 

Das richtige Getränk zum Runterspülen

Das Problem: 

Nicht jede Flüssigkeit eignet sich zum Schlucken von Arzneimitteln. 

Milch und Mineralwässer beispielsweise können mit bestimmten Arzneistoffen unlösliche Komplexe bilden. Diese sind dann einfach zu groß, um durch die Darmschleimhaut ins Blut gelangen zu können und werden einfach wieder ungenutzt ausgeschieden. Das Arzneimittel kann also gar nicht richtig wirken.

Bei Grapefruitsaft ist genau das Gegenteil der Fall: Der bittere Saft kann die Wirkung – und somit auch die Nebenwirkungen – mancher Arzneimittel unkontrolliert steigern. Und das kann richtig gefährlich werden! 

 

Die Lösung:

Perorale Arzneimittel sollten immer mit ausreichend Leitungswasser eingenommen werden.

150 – 200 ml sollten es sein. Denn gerade älteren Menschen bleibt so manche Tablette oft buchstäblich im Halse stecken, wenn sie mit zu wenig Flüssigkeit geschluckt wird. Die Tabletten oder Kapseln haften dann an der Speiseröhrenschleimhaut an, wodurch die Speiseröhre geschädigt werden kann.

Besonders Bisphosphonate (das sind Arzneistoffe gegen Osteoporose), nichtsteroidale Antirheumatika (z.B. Ibuprofen oder Diclofenac), aber auch Kaliumchlorid gehören zu den besonders Schleimhaut reizenden Substanzen. 

Klebt eine Tablette erstmal an der Speiseröhrenschleimhaut, ist sie oft nur mit sehr viel Flüssigkeit weiterzubewegen. Um dem vorzubeugen, ist ein weiterer Aspekt besonders wichtig:

 

Die richtige Körperhaltung

Damit Tabletten auch wirklich im Magen landen, sollten sie immer in aufrechter Körperhaltung eingenommen werden.

Das ist besonders wichtig bei Medikamenten gegen Osteoporose, den Bisphosphonaten. Hier sollte die aufrechte Position mindestens 30 Minuten beibehalten werden.

Wenn diese Tabletten nämlich an der Speiseröhre haften bleiben, können sie böse Geschwüre verursachen!

 

Und was solltest du zum richtigen Zeitpunkt wissen?

Vor oder nach dem Essen? Viele Arzneimittel müssen zu bestimmten Zeitpunkten eingenommen werden, weil sie sonst schlechter wirken oder gar nicht mehr wirksam sind. 


  • Die meisten Arzneimittel können zum Glück ganz unkompliziert unabhängig vom Essen eingenommen werden. 
  • Manche müssen zwingend nüchtern eingenommen werden. Steht im Beipackzettel „vor dem Essen“ ist das praktisch mit nüchtern gleichzusetzen. Wird ein solches Arzneimittel zum oder nach der Mahlzeit verabreicht, kann das unter Umständen zum vollständigen Wirkungsverlust führen.
  • Zum Essen bedeutet: „zwischen zwei Bissen“ und 
  • nach dem Essen: ist leider nicht ganz so konkret definiert. Oft gilt direkt nach der Mahlzeit. Bei einigen Arzneimitteln muss aber eine gewissen Zeitspanne abgewartet und die Tablette erst 2 Stunden nach dem Essen geschluckt werden.


Mögliche Sonderfälle findest du im Beipackzettel.

 

Bei einigen Medikamenten ist sogar die Tageszeit für die Wirkung entscheidend. Organe, Zellstrukturen und Hormone: Sie alle arbeiten, je nach Tageszeit, ganz unterschiedlich. Der frühe Morgen ist beispielsweise der beste Zeitpunkt für Kortisonpräparate. Die Nebennierenrinde schüttet um diese Zeit nämlich ohnehin das körpereigene Cortisol aus.

Darauf stellen sich auch die übrigen Organsysteme ein, die zusätzliche Dosis durch die Tablette wird besser toleriert und die Kortison-Nebenwirkungen fallen geringer aus. 

 

Die Einnahmehäufigkeit

Ein-, zwei- oder dreimal täglich? Dafür gibt es Regeln:

  • Einmal täglich heißt: jeden Tag zur selben Uhrzeit. Am besten ziemlich genau alle 24 Stunden. 
  • Zweimal täglich heißt: im Abstand von 12 Stunden. Bei einem üblichen Tagesrhythmus bietet sich morgens und abends an.
  • Dreimal täglich – du ahnst es – heißt eben NICHT: morgens, mittags, abends. Sondern dreimal am Tag mit jeweils acht Stunden Abstand. 

 

Von diesen Vorgaben solltest du nicht mehr als eine Stunde abweichen.


Wenn du es geschafft hast, bis hierher zu lesen: meine Hochachtung ;)

 

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Eine im renommierten British Medical Journal veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass ein Sprung aus einem Flugzeug ohne intakten Fallschirm nicht tödlicher ist als mit. Auch das Risiko für schwere Verletzungen war ohne Fallschirm nicht höher. Die Wahrscheinlichkeit für Tod oder schwere Verletzungen war in der Kontrollgruppe (in der mit den leeren Rucksäcken) genauso niedrig wie in der Interventionsgruppe (intakte Fallschirme). Alles Blödsinn? Nicht unbedingt. Hier geht es zum Teil 1 meiner kleinen Statistik-Serie (zum besseren Verständnis bitte vorher lesen...) Randomisierung oder: Ist der Zufall zufällig wichtig? Und wieder schauen wir nach England. Diesmal reisen wir in die Zeit kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Die Hauptrolle in dieser Geschichte spielt Austin Bradford Hill , ein Medizinstatistiker. Er war übrigens der erste, der einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs vermutet hat – indem er das Rauchverhalten britischer Ärzte analysierte. Uns interessiert aber ein anderes Thema, nämlich die Tuberkulose . Sie ist in dieser Zeit die häufigste Todesursache bei jungen Männern: Eine bakterielle Infektionskrankheit, die für viele von uns spätestens seit der Fernsehserie „Charité“ ein Gesicht bekommen hat. Tuberkulose kann in unterschiedlichen Formen auftreten: Die Miliartuberkulose befällt den gesamten Körper und ist damals - wie die tuberkulöse Meningitis, die sich überwiegend im Gehirn abspielt – ziemlich sicher tödlich. Leidet man unter einer Lungentuberkulose, gleicht der Ausgang dem Dreh am Glücksrad. Die Ärzte können schlecht vorhersagen, wie es ausgeht, und manchmal heilt diese Form sogar ganz von selbst aus. Die Therapiemöglichkeiten der Tuberkulose sehen zu dieser Zeit ausschließlich Bettruhe vor. Das Penicillin ist zwar schon entdeckt worden, kann aber gegen Tuberkelbakterien (die Erreger der Tuberkulose) nichts ausrichten. Hoffnung naht schließlich aus den USA. Dort war bereits 1943 Streptomycin entdeckt worden, ein in der Tuberkulosetherapie vielversprechendes neues Antibiotikum. Allerdings hat das einen überaus stolzen Preis. Für ein Land wie England kein Problem? Doch, weil die Briten im zweiten Weltkrieg ihr finanzielles Pulver verschossen haben. Sogar Lebensmittel sind knapp, und so können lediglich 50 kg des kostbaren Medikaments importiert werden. Aber auch dafür muss England 320.000 US-Dollar hinblättern. 50 kg klingen nach einer Menge, mit der man arbeiten kann, oder? Tatsächlich müssen die britischen Ärzte jedoch penibel haushalten, weil es einfach so viele Patienten gibt. Man entscheidet sich, das Streptomycin für die Kranken einzusetzen, die am schlimmsten dran sind und ohne den neuen Wirkstoff ganz sicher sterben würden. Patienten, die an Miliartuberkulose oder tuberkulöser Meningitis erkrankt sind, dürfen also zum ersten Mal hoffen. Das ist toll, aber was ist mit dem Rest, den mehreren Tausend Patienten, die an Lungentuberkulose erkrankt sind? Es ist am Ende nämlich nur noch Wirkstoff für knapp 50 Patienten übrig. Eine echte moralische Zwickmühle. Bis Austin Bradford Hill die Bühne betritt und die britische Regierung davon überzeugt, mit dem knappen Streptomycin-Vorrat eine Studie umzusetzen. Statt eines mickrigen „Gießkannen-Versuches“ will er dafür sorgen, dass zukünftige Patienten auf der Basis verlässlicher Daten behandelt werden können. Was tut man also, wenn man mehrere Tausend potenzielle Patienten hat, aber nur einen Bruchteil davon therapieren kann? Den behandelnden Ärzten kann man die Entscheidung, wer den neuen Wirkstoff bekommen soll und wer nicht, unter keinen Umständen zumuten. Auch Ärzte sind nur Menschen und wären in einer derartigen Lage nicht nur mit finanziellen, sondern auch mit ethischen Interessenskonflikten konfrontiert. Es ist die alte Geschichte: Welches Leben ist wertvoller als das andere? Das des Familienvaters mit vier minderjährigen Sprösslingen oder das der alleinstehenden Krankenschwester, die schwerstkranke Menschen betreut? Wo liegt die moralische Schmerzgrenze? Könnten Sie diese Entscheidung treffen? Es gibt aber noch ein anderes Problem: Die Lebensumstände der Erkrankten und die Zustände auf den jeweiligen Krankenhausstationen unterscheiden sich zum Teil enorm. Natürlich hat aber beides Auswirkung auf die Genesung. Um systematische Fehler zu vermeiden, müssen diese Faktoren also berücksichtigt werden. Sonst bekäme man ja wieder keine verlässlichen Aussagen über die Wirksamkeit des Streptomycins. Austin Bradford Hill überlegt sich, dass der Weg aus diesem Dilemma nur der des Zufalls sein kann. Wie geht er vor? Zuerst tut er das, was wir bereits von James Lind und seinen Seemännern kennen: Er stellt Kriterien auf, welche Patienten grundsätzlich für die Studie infrage kommen. Wie bei den Seeleuten auch, muss gewährleistet sein, dass alle Patienten in allen relevanten Merkmalen (die Art der Tuberkulose und deren Stadium zum Beispiel) übereinstimmen. Er bestimmt ebenfalls, dass es eine Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe geben muss. Die Interventionsgruppe in einer Studie bekommt die zu überprüfende Behandlung, während die Kontrollgruppe die bisherige Standardbehandlung erhält. Neu ist die Zuteilung per Zufall. Was heute per Zufallsgenerator passiert, um systematische Fehler zu vermeiden, muss von Bradford Hill erst ausgetüftelt werden. Nachdem er landesweit mehrere Stationen für Tuberkulose-Kranke ausgewählt hat, zieht er selbst Zufallszahlen, um die Behandlungsreihenfolge festzulegen. In versiegelten Umschlägen wird also festgelegt, in welcher Reihenfolge Patienten entweder mit Streptomycin oder mit der Kontrollbehandlung therapiert werden sollen. Wird ein geeigneter Patient in eines der ausgewählten Krankenhäuser aufgenommen, öffnet ein zentrales Büro den Umschlag mit der nächsten Nummer. Im Umschlag befindet sich die Information, ob am aktuellen Patienten das neue Medikament getestet werden soll oder ob er das Standardprogramm erhält. Anschließend wird der behandelnde Arzt informiert. Das geht so lange so weiter, bis schließlich 55 Patienten mit Streptomycin behandelt worden sind, während 52 Patienten in der Kontrollgruppe landen. Das Ergebnis ist so erfreulich wie klar: Sechs Monate nach Abschluss der Therapie sind in der Kontrollgruppe 24 Prozent der Patienten verstorben, in der Streptomycin-Gruppe lediglich sieben Prozent. Austin Bradford Hill hat also ein Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe man ein recht eindeutiges Ergebnis bekommen konnte. Was haben wir daraus gelernt? Der Zufall vermeidet Interessenskonflikte und andere systematische Fehler und die Ziehung der Lottozahlen ist gerecht. Aber zurück zu unserer Fallschirmstudie? Gab es hier eine zufällige Zuteilung? Wir sehen uns das Studienprotokoll an: Ursprünglich wurden 92 Passagiere, die älter als 18 Jahre waren, gescreent, also für die Studie als geeignet ausgewählt. Anschließend sollten diese per Zufall auf die beiden Gruppen (funktionstüchtiger Fallschirm vs. leerer Rucksack) aufgeteilt werden. 64 davon waren nicht besonders abenteuerlustig und verweigerten die Randomisierung. Weitere fünf wurden als nicht geeignet ausgeschlossen, Gründe unbekannt. Es blieben also 23 Passagiere übrig, die per Zufallsgenerator aufgeteilt wurden. Randomisierung: Check! Nächste Woche: Der Dorn im Auge der Studien-Trickser... Dieser Text stammt aus meinem Buch "Ist das gesund oder kann das weg? Alles über Nahrungsergänzungsmittel", erschienen 2020 bei Droemer.
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Statistik ist doch was für Langweiler. Oder Nerds. Warum schreibe ich dann darüber? Weil Papier geduldig ist und das Internet noch viel geduldiger. Und weil wir von vielem, was wir wissen, oft gar nicht mehr wissen, woher wir es wissen: Nachbarin? Frühstücksfernsehen? Oft wir halten Glaube für Wissen und die Ergebnisse der Google-Suche für überprüfte Fakten. Es ist schon für Angehörige von Gesundheitsberufen äußerst schwierig, an vertrauenswürdige und belegte Informationen zu kommen – für Verbraucher und Patienten scheint es nahezu unmöglich. Gerade beim Thema Arzneimittel und ebenso bei Nahrungsergänzungsmitteln wird die Tatsache, dass wir eigentlich noch sehr wenig über Nutzen und möglichen Schaden wissen, von vielen Herstellern schamlos ausgenutzt. Mit viel Marketing, das oft auf Panikmache basiert, wird ein Bedarf suggeriert, der gar nicht vorhanden ist. Nicht selten werden wir so zu Versuchskaninchen der Nahrungsergänzungs-Industrie. Ich möchte deshalb mit Ihnen gemeinsam hinter die Fassaden blicken. Richtig angewendet ist die Statistik dafür ein wunderbares Instrument. Wenn man ein bisschen was für Statistik übrighat, kann man interessante Dinge erfahren: Zum Beispiel, dass Fallschirme nutzlos sind. So kam eine im renommierten British Medical Journal veröffentlichte Studie zu dem Ergebnis, dass ein Sprung aus einem Flugzeug ohne intakten Fallschirm nicht tödlicher ist als mit. Auch das Risiko für schwere Verletzungen war ohne Fallschirm nicht höher. Die Wahrscheinlichkeit für Tod oder schwere Verletzungen war in der Kontrollgruppe (in der mit den leeren Rucksäcken) genauso niedrig wie in der Interventionsgruppe (intakte Fallschirme). Hä? Sie glauben, das kann gar nicht sein? Das Studienergebnis wurde manipuliert? Die Studie nicht korrekt durchgeführt? Dass Vitamin C vor Erkältungen schützt, können Sie sich jedoch durchaus vorstellen? Die Sache ist die: Wir lassen uns gerne von statistischen Aussagen beeindrucken, wenn diese nur verlockend genug formuliert sind, und das umso schneller, wenn wir mit dem Studienergebnis emotional einverstanden sind. Antioxidantien sollen vor Krebs schützen? Das glauben wir doch schon deshalb gerne, weil wir dann vielleicht nicht mit Rauchen aufhören müssen. Studien sind nicht nur ein wichtiges Instrument, um die Wirksamkeit und Sicherheit eines Produktes beurteilen zu können. Sie werden genauso als „Marketing-Tool“ sowohl für Arzneimittelhersteller als auch für Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln genutzt. Beide wissen genau, dass nur die allerwenigsten Verbraucher die im Rahmen von Studien gemachten Aussagen hinterfragen, denn die meisten Menschen schrecken davor zurück, sich mit so offensichtlich komplizierten Zusammenhängen zu befassen. Zugegeben: Nach diesem Post werden Sie Ihr Haushaltseinkommen nicht mit einem Nebenjob als Statistiker aufbessern können. Aber ein wenig transparenter wird die Zahlendreherei für Sie garantiert. Und auch das Fallschirm-Experiment werden Sie am Ende verstehen. Steigen wir also in die geheimnisvolle Welt der Zahlendreherei und Balkendiagramme! Meerwasser, Essig oder doch lieber Schwefelsäure? Wozu braucht man Kontrollgruppen? Bemerkenswerterweise nimmt die Geschichte kontrollierter Studien ausgerechnet mit einem Vitamin ihren Anfang. Wir begeben uns in eine Zeit, in der die Vitamin C-Mangelkrankheit Skorbut mehr Menschenleben innerhalb der britischen Marine fordert, als die gegnerischen Waffen. Was mit Zahnfleischbluten und Müdigkeit beginnt, führt durch Infektionen und ausgeprägte Herzschwäche oft zum Tod. Skorbut ist der gefürchtete Feind der englischen Seeleute, die oft mehrere Wochen ohne Zwischenstopps auf See sind und von haltbaren Vorräten leben müssen. Im Jahr 1740 müssen deshalb 1500 von insgesamt 1900 Seeleuten bei einer Weltumseglung unter Admiral George Anson ihr Leben lassen. Es ist also an der Zeit, schnellstens ein Heilmittel gegen Skorbut zu finden. Vitamine sind zu dieser Zeit noch völlig unbekannt. Die Devise beim Essen ist schlicht: satt werden. Deshalb wird eine Skorbut-Erkrankung auch nicht mit der Ernährung in Verbindung gebracht. Man glaubt, Fäulnisprozesse seien der Auslöser und setzt folglich, wie in dieser Zeit üblich, auf die Behandlung mit Säureanwendungen. Auch mit Zitronensaft experimentiert man. Nicht wegen des Vitamin C – das kennt man ja noch gar nicht - sondern weil Zitronensaft sauer ist. Weil aber Schwefelsäure und Essig noch viel saurer sind, werden sie als wirksamer erachtet. Glücklicherweise reicht einem das Rumstochern im medizinischen Nebel nicht aus: Der schottische Schiffsarzt James Lind startet am 20. Mai 1747 die erste uns bekannte Studie mit Kontrollgruppen. Wochenlang nichts als Wasser, soweit das Auge reicht und das ständige Schaukeln der Wellen – Zeit zum Nachdenken hat er ja. Sein Plan: Er wählt 12 Seeleute aus, die etwa im gleichen Stadium an Skorbut erkrankt sind. Die Männer werden auf demselben Deck untergebracht. Damit will Lind sicherstellen, dass das Essen und alle sonstigen Bedingungen für jeden Patienten gleich sind. Anschließend teilt er sie in Gruppen zu je zwei Männern ein. Gruppe 1 hat in geschmacklicher Hinsicht Glück: Ihnen lässt er einen Viertelliter Apfelwein täglich zukommen. Die zweite Gruppe wird dreimal täglich mit 25 Tropfen verdünnter Schwefelsäure (auf nüchternen Magen) bedacht, was den Männern sicher nicht gefällt. Und auch Gruppe 3 ist sauer, weil sie dreimal täglich zwei Löffel voll Essig schlucken muss. Gruppe 4 muss täglich ein halbes Pint (das entspricht ungefähr einem knappen Viertelliter) Meerwasser trinken. Gruppe 5 darf sich jeden Tag über zwei Orangen und eine Zitrone freuen, während die letzte Gruppe einen Heiltrank, gemixt aus einer Muskatpaste mit Gerstenwasser, hinunterwürgen muss.
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Wenn jede Woche ein vollbesetztes Flugzeug über Deutschland abstürzen würde – würdest du noch fliegen wollen?
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