Apothekerin und Autorin

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Schneiden, quetschen, anknabbern: Was man mit Tabletten besser nicht tun sollte.

Tabletten teilen oder:

Was der Pharmazeut zusammengefügt hat, soll der Patient nicht mutwillig zerstören.

Mit der Schere zerschnitten, mit dem Messer malträtiert? Zwischen zwei Löffeln gequetscht oder gar angeknabbert?

Wann und wie hast du das letzte Mal eine Tablette geteilt? Und warum eigentlich? Solltest oder wolltest du vielleicht nur die halbe Dosis nehmen oder hattest du Probleme mit dem Schlucken?


Jede vierte Tablette wird in Deutschland nicht als Ganze geschluckt – eine problematische Angelegenheit.


Für das Teilen von Tabletten kann es durchaus gute Gründe geben:

Medikamente sind nicht in jeder beliebigen Stärke verfügbar. Für Kinder oder auch Senioren können Wirkstoffe durch Teilen auf eine individuelle Dosis gebracht werden. Oder es gilt, ein Medikament ein- oder auszuschleichen. Das ist beispielsweise bei Wirkstoffen sehr wichtig, die man nicht - ohne starke Nebenwirkungen zu provozieren - von jetzt auf gleich absetzen kann.

In diesem Fall ist das Teilen von Tabletten also eine sinnvolle und wichtige Sache.

Und manchmal flutscht es zerkleinert einfach besser.


Der weitaus häufigste Grund ist aber das liebe Geld! Wie kann das sein?

Eine Tablette mit doppeltem Wirkstoffgehalt ist nicht automatisch doppelt so teuer. Doppelte Dosis heißt somit nicht doppelter Preis. Manchmal wird es einfach günstiger, wenn die höhere Dosis einfach geteilt wird.

Der Arzt schont auf diese Weise sein Arzneimittelbudget und auch für Patientinnen und Patienten wird es oft billiger, denn bei doppelter Stärke hält die Packung doppelt so lange. Es wird also nur einmal die gesetzliche Zuzahlung fällig.


Der Teufel steckt wie immer im Detail.

Nicht alles, was sich irgendwie teilen oder zerkleinern lässt, verzeiht einem die rohe Gewalt. 


Da gibt es doch bestimmt irgendwelche Studien? Na klar:


Professor Haefeli aus Heidelberg hat 905 Patienten befragt, die insgesamt 3158 (!) unterschiedliche Arzneimittel einnahmen.

Ein Viertel der Tabletten wurde geteilt. Meist auf Anweisung des verordnenden Arztes und mit nur wenig Rücksicht auf Verluste: Knappe neun Prozent der geteilten Pillen hatten nämlich gar keine Bruchrille und waren daher auch nicht für das Teilen vorgesehen.

Etwa vier Prozent hätten unter keinen Umständen geteilt werden dürfen.


Weder für den Arzt noch für den Patienten war immer erkennbar, ob das Teilen erlaubt war, denn nur in einem Drittel der Packungsbeilagen machte der jeweilige Hersteller Angaben zur Teilbarkeit.

Manche Hersteller verpassen ihren Tabletten sogar eine so genannte Schmuckkerbe. Solche Kerben sollen eigentlich nur der besseren Unterscheidung von ähnlich geformten Tabletten dienen, tatsächlich tragen sie aber zur allgemeinen Verwirrung bei. Für den Patienten sieht die Kerbe natürlich wie eine Bruchrille aus, was vollkommen nachvollziehbar ist.

Also liebe Hersteller: weg mit Schmuckkerben! Malt halt Blümchen drauf!


83 Prozent der Patienten waren übrigens der Meinung, es stünde im Beipackzettel, wenn das Teilen der Tablette nicht erlaubt ist.

Das mit dem Beipackzettel ist aber so eine Sache. Natürlich gibt es Vorschriften, die die Gestaltung einer Packungsbeilage regeln.

Diese stehen im Arzneimittelgesetz. Und genau so lesen sie sich auch: Amtsdeutsch. Patientenfreundlich geht anders.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat im April 2015 Empfehlungen herausgegeben mit deren Hilfe die Verständlichkeit solcher „Waschzettel“ verbessert werden soll. Unter anderem fordert das BfArM „Angaben mit möglichst konkreten Handlungsanweisungen“.

Ich verstehe das schon so, dass Angaben zur Teilbarkeit unter diesem Punkt gut aufgehoben wären. Nur leider gibt es keine Verpflichtung und deswegen wird es zu wenig gemacht.


Warum sind nicht alle Tabletten teilbar?


Manche Tabletten sind aus gutem Grund mit einem magensaftresistenten Überzug versehen, der sich erst nach der Passage durch den Magen auflösen soll.

Andere Medikamente sind so hergestellt, dass der Wirkstoff nicht auf einmal, sondern langsam und gleichmäßig ins Blut gelangt. Für Patienten hat das den Vorteil, dass sie das betreffende Medikament statt vielleicht dreimal täglich nur einmal am Tag einnehmen müssen. Dafür ist in einer einzelnen Tablette natürlich auch das Dreifache an Wirkstoff enthalten.

Wenn man diese Tablette nun mutwillig zerstört, kann das eine sofortige Freigabe der gesamten Tagesdosis zur Folge haben. Gerade im Falle von Arzneimitteln gegen hohen Blutdruck hat das böse Folgen, denn der rauscht dann gegebenenfalls ins unterste Kellergeschoss ab!

Bei einigen Arzneimitteln können durch das Zerstören der Hülle oder sonstiger Strukturen deshalb wirklich schwerste Nebenwirkungen auftreten.

Oder sie werden komplett wirkungslos, was auch ungünstig ist.


Außerdem können Schwierigkeiten auftreten, an die man vielleicht nicht sofort denkt: Wer sowieso schon mit Würgereiz beim Schlucken der Tabletten zu kämpfen hat, tut sich mit dem Teilen keinen Gefallen.

Das gute Stück hat dann oft sehr raue Bruchkanten und rutscht deswegen deutlich schlechter.


Und für alle, die Tabletten nur zu Pulver gemörsert runterbringen: Teilbare Tabletten sind nicht zwingend auch mörserbar!

Sogenannte MUPS (=multiple unit pellet system) etwa sind oft teilbar, dürfen aber nicht gemörsert werden:



 Mitarbeiter*innen in Pflegeberufen werden übrigens noch vor ganz andere Herausforderungen gestellt:

Manche Wirkstoffe - Arzneimittel gegen Krebserkrankungen gehören etwa dazu - sind sogenannte CMR-Substanzen. 

Diese Abkürzung steht für Canzerogen (krebserzeugend), Mutagen (erbgutverändernd) und Reproduktionstoxisch (fortpflanzungsgefährdend). 

Beim Teilen von Tabletten entstehen feine Stäube, die mit dem Auge nicht erkennbar sind. Eingeatmet werden sie trotzdem. Daher sollten CMR-Substanzen nicht geteilt oder sonst irgendwie zerkleinert werden.


Für die Sparfüchse: Hat eine Tablette nur eine Bruchrille, dann diese bitte nur halbieren. Vierteln ergibt oft nur Brösel. 

Professor Klaus Langer von der Universität in Münster hat das mit seinen Studierenden ausprobiert und kommt zu dem Schluss, dass die Dosis in diesem Fall eher zur Glückssache wird.


Beim teilen mit den Fingern solltest du übrigens schnell und kräftig drücken!

Wenn du zu langsam und zögerlich drückst, brauchst du mehr Kraft. Außerdem bricht die Tablette dann eher ungleichmäßig auseinander und das beeinträchtigt die Genauigkeit der Dosis. 

Manchmal sind die kleinen runden Dinger ziemlich stur und wehren sich gegen das Teilen. Außerdem hat jeder sechste Patient Probleme mit der Fingerfertigkeit. In diesen Fällen gibt es Hilfsmittel, die den Prozess erleichtern. 

Du kannst Kraftverstärker nutzen: Lassen sich die Tabletten grundsätzlich durch Druck mit einem Finger teilen, kannst du die Kraft durch einen gut fassbaren Gegenstand mit flachem Ende verstärken. Das kann zum Beispiel ein leeres Brausetablettenröhrchen sein. Nachteil: bei zu großer Krafteinwirkung wird es bröselig!

Welche Hilfsmittel zum Teilen geeignet sind und wie man sie benutzt? 

Wohin mit dem übriggebliebenen Bruchstück? Warum überzieht man Tabletten überhaupt mit einem magensaftresistenten Überzug? Und woher weiß die Schmerztablette eigentlich, dass sie in den Kopf soll?


 Wenn dich das interessiert, schau doch mal  hier:


(Dieser Text ist ein teils gekürztes und teils ergänztes Kapitel aus meinem Buch "Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen SIe Ihre Apothekerin", erschienen bei Droemer im Mai 2019)




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Eine im renommierten British Medical Journal veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass ein Sprung aus einem Flugzeug ohne intakten Fallschirm nicht tödlicher ist als mit. Auch das Risiko für schwere Verletzungen war ohne Fallschirm nicht höher. Die Wahrscheinlichkeit für Tod oder schwere Verletzungen war in der Kontrollgruppe (in der mit den leeren Rucksäcken) genauso niedrig wie in der Interventionsgruppe (intakte Fallschirme). Alles Blödsinn? Nicht unbedingt. Hier geht es zum Teil 1 meiner kleinen Statistik-Serie (zum besseren Verständnis bitte vorher lesen...) Randomisierung oder: Ist der Zufall zufällig wichtig? Und wieder schauen wir nach England. Diesmal reisen wir in die Zeit kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Die Hauptrolle in dieser Geschichte spielt Austin Bradford Hill , ein Medizinstatistiker. Er war übrigens der erste, der einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs vermutet hat – indem er das Rauchverhalten britischer Ärzte analysierte. Uns interessiert aber ein anderes Thema, nämlich die Tuberkulose . Sie ist in dieser Zeit die häufigste Todesursache bei jungen Männern: Eine bakterielle Infektionskrankheit, die für viele von uns spätestens seit der Fernsehserie „Charité“ ein Gesicht bekommen hat. Tuberkulose kann in unterschiedlichen Formen auftreten: Die Miliartuberkulose befällt den gesamten Körper und ist damals - wie die tuberkulöse Meningitis, die sich überwiegend im Gehirn abspielt – ziemlich sicher tödlich. Leidet man unter einer Lungentuberkulose, gleicht der Ausgang dem Dreh am Glücksrad. Die Ärzte können schlecht vorhersagen, wie es ausgeht, und manchmal heilt diese Form sogar ganz von selbst aus. Die Therapiemöglichkeiten der Tuberkulose sehen zu dieser Zeit ausschließlich Bettruhe vor. Das Penicillin ist zwar schon entdeckt worden, kann aber gegen Tuberkelbakterien (die Erreger der Tuberkulose) nichts ausrichten. Hoffnung naht schließlich aus den USA. Dort war bereits 1943 Streptomycin entdeckt worden, ein in der Tuberkulosetherapie vielversprechendes neues Antibiotikum. Allerdings hat das einen überaus stolzen Preis. Für ein Land wie England kein Problem? Doch, weil die Briten im zweiten Weltkrieg ihr finanzielles Pulver verschossen haben. Sogar Lebensmittel sind knapp, und so können lediglich 50 kg des kostbaren Medikaments importiert werden. Aber auch dafür muss England 320.000 US-Dollar hinblättern. 50 kg klingen nach einer Menge, mit der man arbeiten kann, oder? Tatsächlich müssen die britischen Ärzte jedoch penibel haushalten, weil es einfach so viele Patienten gibt. Man entscheidet sich, das Streptomycin für die Kranken einzusetzen, die am schlimmsten dran sind und ohne den neuen Wirkstoff ganz sicher sterben würden. Patienten, die an Miliartuberkulose oder tuberkulöser Meningitis erkrankt sind, dürfen also zum ersten Mal hoffen. Das ist toll, aber was ist mit dem Rest, den mehreren Tausend Patienten, die an Lungentuberkulose erkrankt sind? Es ist am Ende nämlich nur noch Wirkstoff für knapp 50 Patienten übrig. Eine echte moralische Zwickmühle. Bis Austin Bradford Hill die Bühne betritt und die britische Regierung davon überzeugt, mit dem knappen Streptomycin-Vorrat eine Studie umzusetzen. Statt eines mickrigen „Gießkannen-Versuches“ will er dafür sorgen, dass zukünftige Patienten auf der Basis verlässlicher Daten behandelt werden können. Was tut man also, wenn man mehrere Tausend potenzielle Patienten hat, aber nur einen Bruchteil davon therapieren kann? Den behandelnden Ärzten kann man die Entscheidung, wer den neuen Wirkstoff bekommen soll und wer nicht, unter keinen Umständen zumuten. Auch Ärzte sind nur Menschen und wären in einer derartigen Lage nicht nur mit finanziellen, sondern auch mit ethischen Interessenskonflikten konfrontiert. Es ist die alte Geschichte: Welches Leben ist wertvoller als das andere? Das des Familienvaters mit vier minderjährigen Sprösslingen oder das der alleinstehenden Krankenschwester, die schwerstkranke Menschen betreut? Wo liegt die moralische Schmerzgrenze? Könnten Sie diese Entscheidung treffen? Es gibt aber noch ein anderes Problem: Die Lebensumstände der Erkrankten und die Zustände auf den jeweiligen Krankenhausstationen unterscheiden sich zum Teil enorm. Natürlich hat aber beides Auswirkung auf die Genesung. Um systematische Fehler zu vermeiden, müssen diese Faktoren also berücksichtigt werden. Sonst bekäme man ja wieder keine verlässlichen Aussagen über die Wirksamkeit des Streptomycins. Austin Bradford Hill überlegt sich, dass der Weg aus diesem Dilemma nur der des Zufalls sein kann. Wie geht er vor? Zuerst tut er das, was wir bereits von James Lind und seinen Seemännern kennen: Er stellt Kriterien auf, welche Patienten grundsätzlich für die Studie infrage kommen. Wie bei den Seeleuten auch, muss gewährleistet sein, dass alle Patienten in allen relevanten Merkmalen (die Art der Tuberkulose und deren Stadium zum Beispiel) übereinstimmen. Er bestimmt ebenfalls, dass es eine Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe geben muss. Die Interventionsgruppe in einer Studie bekommt die zu überprüfende Behandlung, während die Kontrollgruppe die bisherige Standardbehandlung erhält. Neu ist die Zuteilung per Zufall. Was heute per Zufallsgenerator passiert, um systematische Fehler zu vermeiden, muss von Bradford Hill erst ausgetüftelt werden. Nachdem er landesweit mehrere Stationen für Tuberkulose-Kranke ausgewählt hat, zieht er selbst Zufallszahlen, um die Behandlungsreihenfolge festzulegen. In versiegelten Umschlägen wird also festgelegt, in welcher Reihenfolge Patienten entweder mit Streptomycin oder mit der Kontrollbehandlung therapiert werden sollen. Wird ein geeigneter Patient in eines der ausgewählten Krankenhäuser aufgenommen, öffnet ein zentrales Büro den Umschlag mit der nächsten Nummer. Im Umschlag befindet sich die Information, ob am aktuellen Patienten das neue Medikament getestet werden soll oder ob er das Standardprogramm erhält. Anschließend wird der behandelnde Arzt informiert. Das geht so lange so weiter, bis schließlich 55 Patienten mit Streptomycin behandelt worden sind, während 52 Patienten in der Kontrollgruppe landen. Das Ergebnis ist so erfreulich wie klar: Sechs Monate nach Abschluss der Therapie sind in der Kontrollgruppe 24 Prozent der Patienten verstorben, in der Streptomycin-Gruppe lediglich sieben Prozent. Austin Bradford Hill hat also ein Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe man ein recht eindeutiges Ergebnis bekommen konnte. Was haben wir daraus gelernt? Der Zufall vermeidet Interessenskonflikte und andere systematische Fehler und die Ziehung der Lottozahlen ist gerecht. Aber zurück zu unserer Fallschirmstudie? Gab es hier eine zufällige Zuteilung? Wir sehen uns das Studienprotokoll an: Ursprünglich wurden 92 Passagiere, die älter als 18 Jahre waren, gescreent, also für die Studie als geeignet ausgewählt. Anschließend sollten diese per Zufall auf die beiden Gruppen (funktionstüchtiger Fallschirm vs. leerer Rucksack) aufgeteilt werden. 64 davon waren nicht besonders abenteuerlustig und verweigerten die Randomisierung. Weitere fünf wurden als nicht geeignet ausgeschlossen, Gründe unbekannt. Es blieben also 23 Passagiere übrig, die per Zufallsgenerator aufgeteilt wurden. Randomisierung: Check! Nächste Woche: Der Dorn im Auge der Studien-Trickser... Dieser Text stammt aus meinem Buch "Ist das gesund oder kann das weg? Alles über Nahrungsergänzungsmittel", erschienen 2020 bei Droemer.
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Statistik ist doch was für Langweiler. Oder Nerds. Warum schreibe ich dann darüber? Weil Papier geduldig ist und das Internet noch viel geduldiger. Und weil wir von vielem, was wir wissen, oft gar nicht mehr wissen, woher wir es wissen: Nachbarin? Frühstücksfernsehen? Oft wir halten Glaube für Wissen und die Ergebnisse der Google-Suche für überprüfte Fakten. Es ist schon für Angehörige von Gesundheitsberufen äußerst schwierig, an vertrauenswürdige und belegte Informationen zu kommen – für Verbraucher und Patienten scheint es nahezu unmöglich. Gerade beim Thema Arzneimittel und ebenso bei Nahrungsergänzungsmitteln wird die Tatsache, dass wir eigentlich noch sehr wenig über Nutzen und möglichen Schaden wissen, von vielen Herstellern schamlos ausgenutzt. Mit viel Marketing, das oft auf Panikmache basiert, wird ein Bedarf suggeriert, der gar nicht vorhanden ist. Nicht selten werden wir so zu Versuchskaninchen der Nahrungsergänzungs-Industrie. Ich möchte deshalb mit Ihnen gemeinsam hinter die Fassaden blicken. Richtig angewendet ist die Statistik dafür ein wunderbares Instrument. Wenn man ein bisschen was für Statistik übrighat, kann man interessante Dinge erfahren: Zum Beispiel, dass Fallschirme nutzlos sind. So kam eine im renommierten British Medical Journal veröffentlichte Studie zu dem Ergebnis, dass ein Sprung aus einem Flugzeug ohne intakten Fallschirm nicht tödlicher ist als mit. Auch das Risiko für schwere Verletzungen war ohne Fallschirm nicht höher. Die Wahrscheinlichkeit für Tod oder schwere Verletzungen war in der Kontrollgruppe (in der mit den leeren Rucksäcken) genauso niedrig wie in der Interventionsgruppe (intakte Fallschirme). Hä? Sie glauben, das kann gar nicht sein? Das Studienergebnis wurde manipuliert? Die Studie nicht korrekt durchgeführt? Dass Vitamin C vor Erkältungen schützt, können Sie sich jedoch durchaus vorstellen? Die Sache ist die: Wir lassen uns gerne von statistischen Aussagen beeindrucken, wenn diese nur verlockend genug formuliert sind, und das umso schneller, wenn wir mit dem Studienergebnis emotional einverstanden sind. Antioxidantien sollen vor Krebs schützen? Das glauben wir doch schon deshalb gerne, weil wir dann vielleicht nicht mit Rauchen aufhören müssen. Studien sind nicht nur ein wichtiges Instrument, um die Wirksamkeit und Sicherheit eines Produktes beurteilen zu können. Sie werden genauso als „Marketing-Tool“ sowohl für Arzneimittelhersteller als auch für Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln genutzt. Beide wissen genau, dass nur die allerwenigsten Verbraucher die im Rahmen von Studien gemachten Aussagen hinterfragen, denn die meisten Menschen schrecken davor zurück, sich mit so offensichtlich komplizierten Zusammenhängen zu befassen. Zugegeben: Nach diesem Post werden Sie Ihr Haushaltseinkommen nicht mit einem Nebenjob als Statistiker aufbessern können. Aber ein wenig transparenter wird die Zahlendreherei für Sie garantiert. Und auch das Fallschirm-Experiment werden Sie am Ende verstehen. Steigen wir also in die geheimnisvolle Welt der Zahlendreherei und Balkendiagramme! Meerwasser, Essig oder doch lieber Schwefelsäure? Wozu braucht man Kontrollgruppen? Bemerkenswerterweise nimmt die Geschichte kontrollierter Studien ausgerechnet mit einem Vitamin ihren Anfang. Wir begeben uns in eine Zeit, in der die Vitamin C-Mangelkrankheit Skorbut mehr Menschenleben innerhalb der britischen Marine fordert, als die gegnerischen Waffen. Was mit Zahnfleischbluten und Müdigkeit beginnt, führt durch Infektionen und ausgeprägte Herzschwäche oft zum Tod. Skorbut ist der gefürchtete Feind der englischen Seeleute, die oft mehrere Wochen ohne Zwischenstopps auf See sind und von haltbaren Vorräten leben müssen. Im Jahr 1740 müssen deshalb 1500 von insgesamt 1900 Seeleuten bei einer Weltumseglung unter Admiral George Anson ihr Leben lassen. Es ist also an der Zeit, schnellstens ein Heilmittel gegen Skorbut zu finden. Vitamine sind zu dieser Zeit noch völlig unbekannt. Die Devise beim Essen ist schlicht: satt werden. Deshalb wird eine Skorbut-Erkrankung auch nicht mit der Ernährung in Verbindung gebracht. Man glaubt, Fäulnisprozesse seien der Auslöser und setzt folglich, wie in dieser Zeit üblich, auf die Behandlung mit Säureanwendungen. Auch mit Zitronensaft experimentiert man. Nicht wegen des Vitamin C – das kennt man ja noch gar nicht - sondern weil Zitronensaft sauer ist. Weil aber Schwefelsäure und Essig noch viel saurer sind, werden sie als wirksamer erachtet. Glücklicherweise reicht einem das Rumstochern im medizinischen Nebel nicht aus: Der schottische Schiffsarzt James Lind startet am 20. Mai 1747 die erste uns bekannte Studie mit Kontrollgruppen. Wochenlang nichts als Wasser, soweit das Auge reicht und das ständige Schaukeln der Wellen – Zeit zum Nachdenken hat er ja. Sein Plan: Er wählt 12 Seeleute aus, die etwa im gleichen Stadium an Skorbut erkrankt sind. Die Männer werden auf demselben Deck untergebracht. Damit will Lind sicherstellen, dass das Essen und alle sonstigen Bedingungen für jeden Patienten gleich sind. Anschließend teilt er sie in Gruppen zu je zwei Männern ein. Gruppe 1 hat in geschmacklicher Hinsicht Glück: Ihnen lässt er einen Viertelliter Apfelwein täglich zukommen. Die zweite Gruppe wird dreimal täglich mit 25 Tropfen verdünnter Schwefelsäure (auf nüchternen Magen) bedacht, was den Männern sicher nicht gefällt. Und auch Gruppe 3 ist sauer, weil sie dreimal täglich zwei Löffel voll Essig schlucken muss. Gruppe 4 muss täglich ein halbes Pint (das entspricht ungefähr einem knappen Viertelliter) Meerwasser trinken. Gruppe 5 darf sich jeden Tag über zwei Orangen und eine Zitrone freuen, während die letzte Gruppe einen Heiltrank, gemixt aus einer Muskatpaste mit Gerstenwasser, hinunterwürgen muss.
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