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Arzneimittelgabe über die Haut: Transdermale therapeutische Systeme (TTS)

Arzneimittelgabe über die Haut:

Transdermale therapeutische Systeme (TTS)


Ein beliebtes Fallbeispiel in der Ausbildung von Rettungskräften ist „Oma Lehmann mit unklarer Bewusstseinstrübung“.

Keine Angst! Du bist nicht im falschen Text gelandet! Denn es kommt tatsächlich vor, dass die falsche Anwendung eines Arzneimittels einen Besuch des Rettungsdienstes notwendig macht.

 

Was ist los mit Oma Lehmann? Sie atmet langsam und flach und so richtig anwesend ist sie auch nicht. Außerdem ist ihre Sprache verwaschen.

Die Rettungskräfte denken sofort an einen Schlaganfall.

Aber beim Bodycheck entdecken sie auf Bauch und Rücken insgesamt vier Fentanylpflaster!

Oma Lehmann hat eine handfeste Opiatüberdosis abbekommen.

Und nein: diese Geschichte habe ich mir leider nicht ausgedacht. Es kommt leider regelmäßig vor, dass Schmerzpflaster nicht entfernt werden, bevor ein neues geklebt wird.

 

Sehen wir uns diese Pflaster doch mal genauer an! Was ist der Vorteil von solchen Transdermalen Therapeutischen Systemen – kurz TTS?

 

Wir ersparen uns das Tablettenschlucken, denn wir schicken den Arzneistoff einfach über die Haut.

Die Haut resorbiert den Arzneistoff und leitet ihn weiter in den Blutkreislauf.

Wir erreichen damit einen ähnlich konstanten Blutspiegel und damit auch eine konstante Wirkung, wie bei einer langsam vor sich hin tröpfelnden Dauerinfusion.

Alle paar Tage ein Pflaster zu kleben, ist zudem für Patientinnen und Patienten oft angenehmer, als mehrmals am Tag eine Tablette zu schlucken.

 

Das Problem: Nur sehr wenige Wirkstoffe schaffen es durch die Hautbarriere, die übrigens nicht überall gleich schwer zu überwinden ist. Ausgesprochen gut geeignet, aber in der Praxis eher unüblich und außerdem nicht bei allen Menschen vorhanden: der Hodensack.

Die Haut hinter dem Ohr tut es aber auch. Verglichen mit dem Unterarm kann die Aufnahme dort um bis das 40-fache gesteigert sein.

 

Die Anforderungen an einen Arzneistoff, der über die Haut aufgenommen werden soll, sind hoch.

Das Arzneistoffmolekül muss „klein“ genug, aber auch ausgesprochen potent sein.

Würden wir beispielsweise Acetylsalicylsäure (ASS) in ein Schmerpflaster packen wollen, bräuchten wir für eine ausreichende Wirkung eine Hautfläche von ganzen 17 Quadratmetern!

 

Wie sind solche transdermalen therapeutischen Systeme aufgebaut?

Es gibt zwei Arten von TTS:

Matrixpflaster und Membranpflaster, die auch als Reservoirpflaster bezeichnet werden.

 

Matrixpflaster sind die modernere Form und werden heute vor allem bei der Therapie chronischer Schmerzen eingesetzt.

Matrixpflaster bestehen aus vier Teilschichten:

  • Ganz oben befindet sich eine Schutzfolie, die nach dem Aufkleben entfernt wird.
  • In der Mitte schützt die sogenannte Deckschicht vor einer Übertragung des Arzneistoffes an die Umgebung. Dadurch wirst auch du bei der Applikation des Pflasters geschützt.
  • Dann folgt die wichtigste Schicht: Die selbstklebende Wirkstoffmatrix.
  • Ganz unten ist nochmal eine Schutzfolie angebracht, die vor dem Aufkleben entfernt wird.

 

Matrixpflaster sind sehr dünn und meist durchsichtig.

Dadurch sind sie schlechter sicht- und fühlbar. Das kann den Pflasterwechsel fehleranfälliger machen.

 

Technologisch bedingt bekommen Matrixpflaster eine höhere Wirkstoffbeladung, als rein rechnerisch notwendig wäre.

 

Was heißt das?

Du sollst ein Fentanyl "xy-Pharm" 50 Mikrogramm/h Matrixpflaster applizieren.

Das Pflaster gibt also 50 Mikrogramm Fentanyl in der Stunde ab.

Die Anweisung lautet: Alle 72 h ein Pflaster kleben.

Rein rechnerisch müssten also 50 x 72 = 3.600 Mikrogramm Fentanyl im Pflaster enthalten sein.

Matrixpflaster werden jedoch mit einer wesentlich höheren Wirkstoffmenge beladen, damit eine gleichmäßige Wirkstoffabgabe bis zur letzten Minute gewährleistet ist. Nach den 72 Stunden ist deswegen noch eine nicht zu unterschätzende „Restmenge“ im Pflaster vorhanden.

Klebst du ein frisches Pflaster, ohne das alte zu entfernen, bekommt die Patientin bzw. der Patient eine Überdosis ab.

Und schon erklärt sich der schlechte Zustand von Oma Lehmann.

 

Seltener werden heutzutage Membran- bzw. Reservoirpflaster verwendet.

Membranpflaster haben noch mehr Schichten als Matrixpflaster. Sie bestehen aus Schutzfolie, Wirkstoffreservoir, Membran, Klebeschicht und Abziehfolie.

Sie sind deshalb größer, dicker und auffälliger als Matrixpflaster. Beim Pflasterwechsel kann man sie besser sehen oder ertasten.

Der Wirkstoff ist in einer Reservoirschicht gelöst. Darunter liegt eine Membranschicht, die den Wirkstoff kontrolliert in die Haut schleust.

Membranpflaster darfst du deshalb niemals zerschneiden!

Dadurch würde die Kontrollmembran zerstört werden und die schlagartige Freisetzung einer großen Wirkstoffmenge zu einer Vergiftung führen!

 

Der Vollständigkeit halber: Diese Gefahr besteht bei Matrixpflastern durch ihren besonderen Aufbau nicht. Dennoch solltest du auch Matrixpflaster nicht zerschneiden, denn es gibt keine Studien zur Anwendung zerteilter Pflaster. Die Hersteller übernehmen im Schadensfall keine Haftung.


Sketchnote: Nadine Roßa (mit Klick auf das Bild landest du sketchnote-love.com!)


So, jetzt gehen wir endlich in die Praxis!

 

So wendest du Schmerzpflaster korrekt an:

 

  • Zuerst stellst du sicher, dass das alte Pflaster entfernt wird. Dazu ziehst du das Pflaster vorsichtig in Haarwuchsrichtung ab. Anschließend faltest du das Pflaster in der Mitte nach innen und drückst die Klebefläche aufeinander. Anschließend entsorgst du das Pflaster fachgerecht nach den jeweiligen Vorgaben deiner Einrichtung.
  • Wähle eine passende Stelle: Bauch, Rücken, Oberarm oder Oberschenkel sind gut geeignet. Außerdem sollte die betreffende Stelle trocken, nicht zu behaart, intakt und auch nicht tätowiert sein. Wechsle die Stelle mit jedem neuen Pflaster!
  • Schneide längere Haare ab! Aber nicht rasieren, das würde kleine Verletzungen auf der Haut hinterlassen. Schere reicht aus.
  • Die Hautstelle muss vor dem Aufkleben des Pflasters gereinigt werden. Das macht man am besten ohne Seife nur mit Wasser. Die Haut danach nicht eincremen.
  • Schneide die Umverpackung des Pflasters nicht auf! Das Pflaster könnte beschädigt werden. Öffne die Verpackung an den markierten Stellen.
  • Entferne die Schutzfolie.
  • Die Klebeflächen möglichst nicht mit den Fingern berühren, sonst klebt es anschließend nicht mehr so gut.
  • Aufkleben. Damit das Pflaster gut haftet, solltest du es etwa 30 Sekunden lang mit der Hand andrücken.

 

Patientinnen und Patienten können mit dem Pflaster duschen, baden und sogar schwimmen, solange die Wassertemperatur 37°C nicht übersteigt.

Sonnenbaden und sonstige Wärmequellen sollten vermieden werden, weil durch die gesteigerte Hautdurchblutung zu viel Wirkstoff ins Blut gelangen könnte und verstärkte Nebenwirkungen sowie Überdosierungen drohen.

 

Praxistipp:

Auch Fieber führt zu einer gesteigerten Wirkstoffaufnahme! Bitte halte daher in diesem Fall immer Rücksprache mit der behandelnden Ärztin bzw. dem Arzt!


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Uns interessiert aber ein anderes Thema, nämlich die Tuberkulose . Sie ist in dieser Zeit die häufigste Todesursache bei jungen Männern: Eine bakterielle Infektionskrankheit, die für viele von uns spätestens seit der Fernsehserie „Charité“ ein Gesicht bekommen hat. Tuberkulose kann in unterschiedlichen Formen auftreten: Die Miliartuberkulose befällt den gesamten Körper und ist damals - wie die tuberkulöse Meningitis, die sich überwiegend im Gehirn abspielt – ziemlich sicher tödlich. Leidet man unter einer Lungentuberkulose, gleicht der Ausgang dem Dreh am Glücksrad. Die Ärzte können schlecht vorhersagen, wie es ausgeht, und manchmal heilt diese Form sogar ganz von selbst aus. Die Therapiemöglichkeiten der Tuberkulose sehen zu dieser Zeit ausschließlich Bettruhe vor. Das Penicillin ist zwar schon entdeckt worden, kann aber gegen Tuberkelbakterien (die Erreger der Tuberkulose) nichts ausrichten. Hoffnung naht schließlich aus den USA. Dort war bereits 1943 Streptomycin entdeckt worden, ein in der Tuberkulosetherapie vielversprechendes neues Antibiotikum. Allerdings hat das einen überaus stolzen Preis. Für ein Land wie England kein Problem? Doch, weil die Briten im zweiten Weltkrieg ihr finanzielles Pulver verschossen haben. Sogar Lebensmittel sind knapp, und so können lediglich 50 kg des kostbaren Medikaments importiert werden. Aber auch dafür muss England 320.000 US-Dollar hinblättern. 50 kg klingen nach einer Menge, mit der man arbeiten kann, oder? Tatsächlich müssen die britischen Ärzte jedoch penibel haushalten, weil es einfach so viele Patienten gibt. Man entscheidet sich, das Streptomycin für die Kranken einzusetzen, die am schlimmsten dran sind und ohne den neuen Wirkstoff ganz sicher sterben würden. Patienten, die an Miliartuberkulose oder tuberkulöser Meningitis erkrankt sind, dürfen also zum ersten Mal hoffen. Das ist toll, aber was ist mit dem Rest, den mehreren Tausend Patienten, die an Lungentuberkulose erkrankt sind? Es ist am Ende nämlich nur noch Wirkstoff für knapp 50 Patienten übrig. Eine echte moralische Zwickmühle. Bis Austin Bradford Hill die Bühne betritt und die britische Regierung davon überzeugt, mit dem knappen Streptomycin-Vorrat eine Studie umzusetzen. Statt eines mickrigen „Gießkannen-Versuches“ will er dafür sorgen, dass zukünftige Patienten auf der Basis verlässlicher Daten behandelt werden können. Was tut man also, wenn man mehrere Tausend potenzielle Patienten hat, aber nur einen Bruchteil davon therapieren kann? Den behandelnden Ärzten kann man die Entscheidung, wer den neuen Wirkstoff bekommen soll und wer nicht, unter keinen Umständen zumuten. Auch Ärzte sind nur Menschen und wären in einer derartigen Lage nicht nur mit finanziellen, sondern auch mit ethischen Interessenskonflikten konfrontiert. Es ist die alte Geschichte: Welches Leben ist wertvoller als das andere? Das des Familienvaters mit vier minderjährigen Sprösslingen oder das der alleinstehenden Krankenschwester, die schwerstkranke Menschen betreut? Wo liegt die moralische Schmerzgrenze? Könnten Sie diese Entscheidung treffen? Es gibt aber noch ein anderes Problem: Die Lebensumstände der Erkrankten und die Zustände auf den jeweiligen Krankenhausstationen unterscheiden sich zum Teil enorm. Natürlich hat aber beides Auswirkung auf die Genesung. Um systematische Fehler zu vermeiden, müssen diese Faktoren also berücksichtigt werden. Sonst bekäme man ja wieder keine verlässlichen Aussagen über die Wirksamkeit des Streptomycins. Austin Bradford Hill überlegt sich, dass der Weg aus diesem Dilemma nur der des Zufalls sein kann. Wie geht er vor? Zuerst tut er das, was wir bereits von James Lind und seinen Seemännern kennen: Er stellt Kriterien auf, welche Patienten grundsätzlich für die Studie infrage kommen. Wie bei den Seeleuten auch, muss gewährleistet sein, dass alle Patienten in allen relevanten Merkmalen (die Art der Tuberkulose und deren Stadium zum Beispiel) übereinstimmen. Er bestimmt ebenfalls, dass es eine Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe geben muss. Die Interventionsgruppe in einer Studie bekommt die zu überprüfende Behandlung, während die Kontrollgruppe die bisherige Standardbehandlung erhält. Neu ist die Zuteilung per Zufall. Was heute per Zufallsgenerator passiert, um systematische Fehler zu vermeiden, muss von Bradford Hill erst ausgetüftelt werden. Nachdem er landesweit mehrere Stationen für Tuberkulose-Kranke ausgewählt hat, zieht er selbst Zufallszahlen, um die Behandlungsreihenfolge festzulegen. In versiegelten Umschlägen wird also festgelegt, in welcher Reihenfolge Patienten entweder mit Streptomycin oder mit der Kontrollbehandlung therapiert werden sollen. Wird ein geeigneter Patient in eines der ausgewählten Krankenhäuser aufgenommen, öffnet ein zentrales Büro den Umschlag mit der nächsten Nummer. Im Umschlag befindet sich die Information, ob am aktuellen Patienten das neue Medikament getestet werden soll oder ob er das Standardprogramm erhält. Anschließend wird der behandelnde Arzt informiert. Das geht so lange so weiter, bis schließlich 55 Patienten mit Streptomycin behandelt worden sind, während 52 Patienten in der Kontrollgruppe landen. Das Ergebnis ist so erfreulich wie klar: Sechs Monate nach Abschluss der Therapie sind in der Kontrollgruppe 24 Prozent der Patienten verstorben, in der Streptomycin-Gruppe lediglich sieben Prozent. Austin Bradford Hill hat also ein Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe man ein recht eindeutiges Ergebnis bekommen konnte. Was haben wir daraus gelernt? Der Zufall vermeidet Interessenskonflikte und andere systematische Fehler und die Ziehung der Lottozahlen ist gerecht. Aber zurück zu unserer Fallschirmstudie? Gab es hier eine zufällige Zuteilung? Wir sehen uns das Studienprotokoll an: Ursprünglich wurden 92 Passagiere, die älter als 18 Jahre waren, gescreent, also für die Studie als geeignet ausgewählt. Anschließend sollten diese per Zufall auf die beiden Gruppen (funktionstüchtiger Fallschirm vs. leerer Rucksack) aufgeteilt werden. 64 davon waren nicht besonders abenteuerlustig und verweigerten die Randomisierung. Weitere fünf wurden als nicht geeignet ausgeschlossen, Gründe unbekannt. Es blieben also 23 Passagiere übrig, die per Zufallsgenerator aufgeteilt wurden. Randomisierung: Check! Nächste Woche: Der Dorn im Auge der Studien-Trickser... Dieser Text stammt aus meinem Buch "Ist das gesund oder kann das weg? Alles über Nahrungsergänzungsmittel", erschienen 2020 bei Droemer.
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Statistik ist doch was für Langweiler. Oder Nerds. Warum schreibe ich dann darüber? Weil Papier geduldig ist und das Internet noch viel geduldiger. Und weil wir von vielem, was wir wissen, oft gar nicht mehr wissen, woher wir es wissen: Nachbarin? Frühstücksfernsehen? Oft wir halten Glaube für Wissen und die Ergebnisse der Google-Suche für überprüfte Fakten. Es ist schon für Angehörige von Gesundheitsberufen äußerst schwierig, an vertrauenswürdige und belegte Informationen zu kommen – für Verbraucher und Patienten scheint es nahezu unmöglich. Gerade beim Thema Arzneimittel und ebenso bei Nahrungsergänzungsmitteln wird die Tatsache, dass wir eigentlich noch sehr wenig über Nutzen und möglichen Schaden wissen, von vielen Herstellern schamlos ausgenutzt. Mit viel Marketing, das oft auf Panikmache basiert, wird ein Bedarf suggeriert, der gar nicht vorhanden ist. Nicht selten werden wir so zu Versuchskaninchen der Nahrungsergänzungs-Industrie. Ich möchte deshalb mit Ihnen gemeinsam hinter die Fassaden blicken. Richtig angewendet ist die Statistik dafür ein wunderbares Instrument. Wenn man ein bisschen was für Statistik übrighat, kann man interessante Dinge erfahren: Zum Beispiel, dass Fallschirme nutzlos sind. So kam eine im renommierten British Medical Journal veröffentlichte Studie zu dem Ergebnis, dass ein Sprung aus einem Flugzeug ohne intakten Fallschirm nicht tödlicher ist als mit. Auch das Risiko für schwere Verletzungen war ohne Fallschirm nicht höher. Die Wahrscheinlichkeit für Tod oder schwere Verletzungen war in der Kontrollgruppe (in der mit den leeren Rucksäcken) genauso niedrig wie in der Interventionsgruppe (intakte Fallschirme). Hä? Sie glauben, das kann gar nicht sein? Das Studienergebnis wurde manipuliert? Die Studie nicht korrekt durchgeführt? Dass Vitamin C vor Erkältungen schützt, können Sie sich jedoch durchaus vorstellen? Die Sache ist die: Wir lassen uns gerne von statistischen Aussagen beeindrucken, wenn diese nur verlockend genug formuliert sind, und das umso schneller, wenn wir mit dem Studienergebnis emotional einverstanden sind. Antioxidantien sollen vor Krebs schützen? Das glauben wir doch schon deshalb gerne, weil wir dann vielleicht nicht mit Rauchen aufhören müssen. Studien sind nicht nur ein wichtiges Instrument, um die Wirksamkeit und Sicherheit eines Produktes beurteilen zu können. Sie werden genauso als „Marketing-Tool“ sowohl für Arzneimittelhersteller als auch für Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln genutzt. Beide wissen genau, dass nur die allerwenigsten Verbraucher die im Rahmen von Studien gemachten Aussagen hinterfragen, denn die meisten Menschen schrecken davor zurück, sich mit so offensichtlich komplizierten Zusammenhängen zu befassen. Zugegeben: Nach diesem Post werden Sie Ihr Haushaltseinkommen nicht mit einem Nebenjob als Statistiker aufbessern können. Aber ein wenig transparenter wird die Zahlendreherei für Sie garantiert. Und auch das Fallschirm-Experiment werden Sie am Ende verstehen. Steigen wir also in die geheimnisvolle Welt der Zahlendreherei und Balkendiagramme! Meerwasser, Essig oder doch lieber Schwefelsäure? Wozu braucht man Kontrollgruppen? Bemerkenswerterweise nimmt die Geschichte kontrollierter Studien ausgerechnet mit einem Vitamin ihren Anfang. Wir begeben uns in eine Zeit, in der die Vitamin C-Mangelkrankheit Skorbut mehr Menschenleben innerhalb der britischen Marine fordert, als die gegnerischen Waffen. Was mit Zahnfleischbluten und Müdigkeit beginnt, führt durch Infektionen und ausgeprägte Herzschwäche oft zum Tod. Skorbut ist der gefürchtete Feind der englischen Seeleute, die oft mehrere Wochen ohne Zwischenstopps auf See sind und von haltbaren Vorräten leben müssen. Im Jahr 1740 müssen deshalb 1500 von insgesamt 1900 Seeleuten bei einer Weltumseglung unter Admiral George Anson ihr Leben lassen. Es ist also an der Zeit, schnellstens ein Heilmittel gegen Skorbut zu finden. Vitamine sind zu dieser Zeit noch völlig unbekannt. Die Devise beim Essen ist schlicht: satt werden. Deshalb wird eine Skorbut-Erkrankung auch nicht mit der Ernährung in Verbindung gebracht. Man glaubt, Fäulnisprozesse seien der Auslöser und setzt folglich, wie in dieser Zeit üblich, auf die Behandlung mit Säureanwendungen. Auch mit Zitronensaft experimentiert man. Nicht wegen des Vitamin C – das kennt man ja noch gar nicht - sondern weil Zitronensaft sauer ist. Weil aber Schwefelsäure und Essig noch viel saurer sind, werden sie als wirksamer erachtet. Glücklicherweise reicht einem das Rumstochern im medizinischen Nebel nicht aus: Der schottische Schiffsarzt James Lind startet am 20. Mai 1747 die erste uns bekannte Studie mit Kontrollgruppen. Wochenlang nichts als Wasser, soweit das Auge reicht und das ständige Schaukeln der Wellen – Zeit zum Nachdenken hat er ja. Sein Plan: Er wählt 12 Seeleute aus, die etwa im gleichen Stadium an Skorbut erkrankt sind. Die Männer werden auf demselben Deck untergebracht. Damit will Lind sicherstellen, dass das Essen und alle sonstigen Bedingungen für jeden Patienten gleich sind. Anschließend teilt er sie in Gruppen zu je zwei Männern ein. Gruppe 1 hat in geschmacklicher Hinsicht Glück: Ihnen lässt er einen Viertelliter Apfelwein täglich zukommen. Die zweite Gruppe wird dreimal täglich mit 25 Tropfen verdünnter Schwefelsäure (auf nüchternen Magen) bedacht, was den Männern sicher nicht gefällt. Und auch Gruppe 3 ist sauer, weil sie dreimal täglich zwei Löffel voll Essig schlucken muss. Gruppe 4 muss täglich ein halbes Pint (das entspricht ungefähr einem knappen Viertelliter) Meerwasser trinken. Gruppe 5 darf sich jeden Tag über zwei Orangen und eine Zitrone freuen, während die letzte Gruppe einen Heiltrank, gemixt aus einer Muskatpaste mit Gerstenwasser, hinunterwürgen muss.
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