Statistik ist doch was für Langweiler. Oder Nerds.
Warum schreibe ich dann darüber?
Weil Papier geduldig ist und das Internet noch viel geduldiger.
Und weil wir von vielem, was wir wissen, oft gar nicht mehr wissen, woher wir es wissen: Nachbarin? Frühstücksfernsehen? Oft wir halten Glaube für Wissen und die Ergebnisse der Google-Suche für überprüfte Fakten.
Es ist schon für Angehörige von Gesundheitsberufen äußerst schwierig, an vertrauenswürdige und belegte Informationen zu kommen – für Verbraucher und Patienten scheint es nahezu unmöglich.
Gerade beim Thema Arzneimittel und ebenso bei Nahrungsergänzungsmitteln wird die Tatsache, dass wir eigentlich noch sehr wenig über Nutzen und möglichen Schaden wissen, von vielen Herstellern schamlos ausgenutzt. Mit viel Marketing, das oft auf Panikmache basiert, wird ein Bedarf suggeriert, der gar nicht vorhanden ist. Nicht selten werden wir so zu Versuchskaninchen der Nahrungsergänzungs-Industrie.
Ich möchte deshalb mit Ihnen gemeinsam hinter die Fassaden blicken. Richtig angewendet ist die Statistik dafür ein wunderbares Instrument.
Wenn man ein bisschen was für Statistik übrighat, kann man interessante Dinge erfahren:
Zum Beispiel, dass Fallschirme nutzlos sind.
So kam eine im renommierten British Medical Journal veröffentlichte Studie zu dem Ergebnis, dass ein Sprung aus einem Flugzeug ohne intakten Fallschirm nicht tödlicher ist als mit. Auch das Risiko für schwere Verletzungen war ohne Fallschirm nicht höher. Die Wahrscheinlichkeit für Tod oder schwere Verletzungen war in der Kontrollgruppe (in der mit den leeren Rucksäcken) genauso niedrig wie in der Interventionsgruppe (intakte Fallschirme).
Hä?
Sie glauben, das kann gar nicht sein? Das Studienergebnis wurde manipuliert? Die Studie nicht korrekt durchgeführt? Dass Vitamin C vor Erkältungen schützt, können Sie sich jedoch durchaus vorstellen?
Die Sache ist die: Wir lassen uns gerne von statistischen Aussagen beeindrucken, wenn diese nur verlockend genug formuliert sind, und das umso schneller, wenn wir mit dem Studienergebnis emotional einverstanden sind. Antioxidantien sollen vor Krebs schützen? Das glauben wir doch schon deshalb gerne, weil wir dann vielleicht nicht mit Rauchen aufhören müssen.
Studien sind nicht nur ein wichtiges Instrument, um die Wirksamkeit und Sicherheit eines Produktes beurteilen zu können. Sie werden genauso als „Marketing-Tool“ sowohl für Arzneimittelhersteller als auch für Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln genutzt. Beide wissen genau, dass nur die allerwenigsten Verbraucher die im Rahmen von Studien gemachten Aussagen hinterfragen, denn die meisten Menschen schrecken davor zurück, sich mit so offensichtlich komplizierten Zusammenhängen zu befassen.
Zugegeben: Nach diesem Post werden Sie Ihr Haushaltseinkommen nicht mit einem Nebenjob als Statistiker aufbessern können. Aber ein wenig transparenter wird die Zahlendreherei für Sie garantiert. Und auch das Fallschirm-Experiment werden Sie am Ende verstehen.
Steigen wir also in die geheimnisvolle Welt der Zahlendreherei und Balkendiagramme!
Meerwasser, Essig oder doch lieber Schwefelsäure? Wozu braucht man Kontrollgruppen?
Bemerkenswerterweise nimmt die Geschichte kontrollierter Studien ausgerechnet mit einem Vitamin ihren Anfang.
Wir begeben uns in eine Zeit, in der die Vitamin C-Mangelkrankheit Skorbut mehr Menschenleben innerhalb der britischen Marine fordert, als die gegnerischen Waffen. Was mit Zahnfleischbluten und Müdigkeit beginnt, führt durch Infektionen und ausgeprägte Herzschwäche oft zum Tod. Skorbut ist der gefürchtete Feind der englischen Seeleute, die oft mehrere Wochen ohne Zwischenstopps auf See sind und von haltbaren Vorräten leben müssen.
Im Jahr 1740 müssen deshalb 1500 von insgesamt 1900 Seeleuten bei einer Weltumseglung unter Admiral George Anson ihr Leben lassen. Es ist also an der Zeit, schnellstens ein Heilmittel gegen Skorbut zu finden. Vitamine sind zu dieser Zeit noch völlig unbekannt. Die Devise beim Essen ist schlicht: satt werden. Deshalb wird eine Skorbut-Erkrankung auch nicht mit der Ernährung in Verbindung gebracht. Man glaubt, Fäulnisprozesse seien der Auslöser und setzt folglich, wie in dieser Zeit üblich, auf die Behandlung mit Säureanwendungen. Auch mit Zitronensaft experimentiert man. Nicht wegen des Vitamin C – das kennt man ja noch gar nicht - sondern weil Zitronensaft sauer ist. Weil aber Schwefelsäure und Essig noch viel saurer sind, werden sie als wirksamer erachtet.
Glücklicherweise reicht einem das Rumstochern im medizinischen Nebel nicht aus: Der schottische Schiffsarzt James Lind startet am 20. Mai 1747 die erste uns bekannte Studie mit Kontrollgruppen. Wochenlang nichts als Wasser, soweit das Auge reicht und das ständige Schaukeln der Wellen – Zeit zum Nachdenken hat er ja.
Sein Plan: Er wählt 12 Seeleute aus, die etwa im gleichen Stadium an Skorbut erkrankt sind. Die Männer werden auf demselben Deck untergebracht. Damit will Lind sicherstellen, dass das Essen und alle sonstigen Bedingungen für jeden Patienten gleich sind. Anschließend teilt er sie in Gruppen zu je zwei Männern ein. Gruppe 1 hat in geschmacklicher Hinsicht Glück: Ihnen lässt er einen Viertelliter Apfelwein täglich zukommen. Die zweite Gruppe wird dreimal täglich mit 25 Tropfen verdünnter Schwefelsäure (auf nüchternen Magen) bedacht, was den Männern sicher nicht gefällt. Und auch Gruppe 3 ist sauer, weil sie dreimal täglich zwei Löffel voll Essig schlucken muss. Gruppe 4 muss täglich ein halbes Pint (das entspricht ungefähr einem knappen Viertelliter) Meerwasser trinken. Gruppe 5 darf sich jeden Tag über zwei Orangen und eine Zitrone freuen, während die letzte Gruppe einen Heiltrank, gemixt aus einer Muskatpaste mit Gerstenwasser, hinunterwürgen muss.